Warst du als Kind auch krank und bist deshalb zu einer Kinderkur geschickt worden? So ging es ab den 1950er Jahren vielen Kindern in Deutschland - übrigens auch mir selbst. Ich verbrachte nach einer schweren Lungenentzündung in den 80er Jahren sechs Wochen in einem Kinderkurheim an der Nordsee. Mich beschäftigt diese Zeit (persönlich und auch aus beruflichem Interesse als Psychologin und Heilpraktikerin) bis heute. Und nicht zuletzt durch das eindrückliche Buch Die Akte Verschickungskinder: Wie Kurheime für Generationen zum Albtraum wurden von Hilke Lorenz wurde mir klar, dass noch eine Menge Menschen Belastungen aus dieser Zeit still leidend mit sich herumtragen. Denn für viele bedeutete die Kur nicht Erholung und Fürsorge, sondern Angst, Einsamkeit und Ohnmacht. Die vermeintlich gesundheitsfördernden Aufenthalte in Heimen an der See oder in den Bergen entwickelten sich für zahlreiche Betroffene zu enorm belastenden Erfahrungen, die teils bis heute nachwirken. Doch warum war das so – und wie können diese Erlebnisse heute reflektiert und verarbeitet werden?
Der Bruch mit der gewohnten Welt
Oft wurden Kinder ohne große Erklärungen von ihren Eltern weggebracht. Die Abschiede waren abrupt, das Heimweh vorprogrammiert. Viele fühlten sich verlassen, unverstanden und ausgeliefert. Briefe wurden zensiert oder gar nicht erst weitergegeben, Besuche oder auch nur Telefonate waren üblicherweise nicht erlaubt. Der Kontakt zur Familie war stark eingeschränkt, so dass die Kinder mit ihrem Schmerz alleine blieben. Ich selbst erinnere mich an die sechs Wochen in der Kur tatsächlich nur bruchstückhaft, obwohl ich zu diesem Zeitpunkt bereits acht Jahre alt war. Das Gefühl, das für mich über den wenigen Erinnerung liegt, ist vor allem eine unfassbar große Einsamkeit, gekoppelt mit Trauer, Hilflosigkeit und Überforderung. Und ich bin mir sicher, dass die Zustände in den Kurheimen in den 1980er Jahren bereits vergleichsweise gut waren. Trotzdem hat die Zeit Spuren hinterlassen.
Strenge Regeln und emotionale Kälte
In vielen Kurheimen herrschte ein rigides System mit strengen Regeln und wenig Zuwendung. Wer nicht aufaß, wurde bestraft. Wer weinte, wurde ignoriert oder ausgelacht. Wer krank war, musste trotzdem mitmachen. Angst zählte nicht. Ich weiß noch, dass ich unglaubliche Angst vor dem Besuch im Wellenbad hatte. Für mich war das eine Todesangst-Erfahrung, weil ich als kleines Kind einmal fast ertrunken wäre und noch viele Jahre danach nur mit Angst ins Wasser ging – auch noch, als ich längst sicher schwimmen konnte. Ich musste in der Kur trotzdem in dieses Becken, ich musste in die Wellen, in die Angst. Für mich war das schlimm. Für andere Kinder gab es sicher andere Themen, andere Situationen, die Ängste und Hilflosigkeit auslösten. Und vielleicht auch Todesangst.
Aus heutiger, erwachsener Sicht, kann ich sagen: Grenzen wurden in den Kurheimen ignoriert und überschritten. Viele Kinder erlebten diese Zeit als entmenschlichend – Gefühle wurden nicht beachtet, individuelle Bedürfnisse spielten keine Rolle. Der Anpassungsdruck war hoch, jeglicher Widerstand zwecklos. In der Gruppe nackt über den Flur und mehrere Treppen zu den Duschräumen gehen. Tagsüber keine Rückzugsmöglichkeit bekommen. Zum Essen gezwungen werden.
Zu meiner Kurzeit gab es (meines Wissens nach zumindest in dem Kurheim, in dem ich untergebracht war) keine Schläge mehr– aber viele Kinder der Generationen vor mir hatten dieses Glück nicht. Und das Kapitel des ärztlichen und pflegerischen Personals, das nach dem zweiten Weltkrieg in den Kinderkurheimen tätig wurde, ist leider nochmal ein ganz eigenes. Und sehr düster. Auch hier verweise ich zur weiteren Lektüre auf die Recherchen und das Buch von Hilke Lorenz.
Folgen bis ins Erwachsenenalter
Erlebnisse aus der Kindheit sind prägend – besonders, wenn sie mit Gefühlen von Hilflosigkeit und Angst verbunden waren. Viele Betroffene kämpfen noch heute mit den Spätfolgen dieser Erfahrungen: Schwierigkeiten in engen Beziehungen oder Angst vor dem Verlassenwerden können auftreten, außerdem erheben viele an sich selbst den Anspruch von Perfektionismus und glauben, immer funktionieren zu müssen. Egal, wie viel Überwindung es kostet. Egal, wie sehr es wehtut. Unbewusste Abwehrmechanismen, um alte Schmerzen nicht zu spüren, können eine Rolle spielen, aber auch körperliche Beschwerden wie Magenprobleme, chronische Verspannungen und Schmerzen oder Schlafstörungen sowie seelische Belastungen wie Ängste, depressive Verstimmungen und Symptome in Folge traumatischer Erfahrungen können sich melden.
Möglichkeiten der Verarbeitung
Auch wenn die Vergangenheit nicht geändert werden kann, gibt es Ansätze, um sich mit den alten Erfahrungen auseinanderzusetzen. In meiner Praxis begleite ich Betroffene ganzheitlich, um die belastenden Erinnerungen zu reflektieren und zu verarbeiten.
- Traumasensible Gesprächstherapie kann dabei unterstützen, die Erlebnisse bewusst zu machen und neue Perspektiven zu entwickeln. Systemisches Arbeiten kann u.a. bei der Einordnung in Bindungskontexten hilfreich sein.
- Tiefenpsychologische Ansätze ermöglichen es uns, unbewusste Muster besser zu erkennen, entsprechend hilfreich einzuordnen und Schritt für Schritt zu verändern.
- Kunsttherapeutische Methoden erlauben es, über Symbole und Bilder die Gefühle auszudrücken, für die ansonsten oft die Worte fehlen.
- EMDR (Eye Movement Desensitization and Reprocessing) kann dabei helfen, traumatische Erinnerungen zu verarbeiten, eine Möglichkeit zur Integration zu finden und sich mit sich selbst und dem, was passiert ist, auszusöhnen.
- Focusing und Visualisierungen unterstützen den Zugang zu wertvollen hilfreichen inneren Ressourcen und Reflexionsprozessen. Und machen uns bewusst, dass wir vor allem eines sind – Menschen. Mit all dem, was Menschen eben ausmacht.
Du bist nicht allein
Auch, wenn du vielleicht denkst, dass es nur dir so ging – viele Menschen tragen die Erinnerungen an ihre Kinderkur als unsichtbare schwere Last mit sich herum. Es kann hilfreich sein, sich mit diesen Erfahrungen auseinanderzusetzen. Wenn du dich in diesen Erlebnissen wiedererkennst und Unterstützung auf deinem Weg suchst, stehe ich dir in meiner Praxis für Psychotherapie und Naturheilverfahren gerne zur Seite. Beratend sind auch Onlinetermine möglich – kontaktiere mich gerne und wir können gemeinsam sehen, was in deinem Fall angebracht und sinnvoll ist. Ich freue mich auf dich!